Liebste Lesende,
wir sind Tabellenführer*innen. Was wir da bei der Alten Dame auf dem Platz erleben durften, war eine Machtdemonstration unseres Teams. Ein Twitteruser fasste es mit „Ausgecoacht. Ausgespielt. Niedergekämpft.“ zusammen, und besser können wir es nicht ausdrücken.
Wann hat der FCSP das letzte Mal einen Fußball gespielt, der so auf der Höhe der Zeit ist und bei dem man das Gefühl hat, dass jeder Spieler auf dem Platz zu 100 % weiß, was er da tut? Ältere werden sich an 1994 und die folgenden Jahre erinnern – das war gefühlt das letzte Mal, dass eine Truppe des FCSP so überzeugend auftrat. Und nein, das ist kein Kleinreden der Stani-Jahre – das war am Ende auch eine erfolgreiche und sehr eingespielte Truppe. Aber so? Auch technisch? Stellt euch mal vor, Ralle, Eger und Co. hätten versucht, so lässig ein Pressing auszuspielen! Das wäre häufiger schief gegangen.
Überhaupt, warum genau pressen uns gegnerische Truppen noch? Sie sollten gemerkt haben, dass das wenig bringt, weil unser braun-weíßes Abwehrballett sie austanzt. Klar, uns als Fans bleibt jedes Mal das Herz stehen, wenn Vasilj da einen Gegner ins Leere laufen lässt, aber das ist schon brutal gekonnt, und das sah man beim FCSP echt selten.
Das ist das Ding: Man sieht mit dem bloßen Auge aus einem Auswärtsblock, dass diese Truppe genialen Fußball spielt. Und Hürzeler jedem genau seine Aufgabe zugeteilt hat und das absolut gut funktioniert.
In diesem System glänzt ein Hartel in der Form seines Lebens und ein Eggestein wird vom Tribünensitzer zum Leistungsträger. Alter, was macht der für Meter und wie brandgefährlich ist der bitte in jeder Situation? Warum noch mal haben wir Zoller verpflichtet? Spaß beiseite: Den haben wir verpflichtet, weil du mehr als einen guten Stürmer brauchst, und wir sind uns sicher, dass der noch ganz viele wichtige Momente für dieses Team hat, wenn der erstmal 100 % in Fahrt ist.
Wie toll ist es eigentlich, dass Spieler wie Eggestein und Boukhalfa jetzt wieder so im Spiel sind? Wir sind ehrlich: Wir hatten die beiden schon abgeschrieben. Es spricht sehr für Hürzeler, dass diese beiden wieder eine Rolle spielen und sich weiterentwickeln konnten. Es ist die große Trainerkunst, wenn solche Spieler nicht frustriert den Verein wechseln, sondern weiter arbeiten und dann auch wieder erfolgreich sind.
Alles, was jetzt folgt, ist daher Jammern auf HÖCHSTEM Zweitliganiveau:
1. Wir müssen unsere Chancen noch besser verwerten. Bei der Überlegenheit muss auch mal das zweite und dritte Tor fallen. Argh!
2. Wir müssen den einen Sekundenschlaf, den wir anscheinend pro Spiel haben, in den Griff bekommen. Das Gegentor ist extrem unnötig und erweckt eine mausetote Hertha noch mal zum Leben. So wird es noch mal unnötig spannend.
3. Wie ärgerlich sind bitte diese ätzenden Unentschieden gegen Fürth und Braunschweig? Die hätten echt nicht sein müssen und über diese 4 Punkte können wir uns noch eine ganze Zeit ärgern.
4. Nach den Wechseln werden wir immer schwammig und ungenau. Dann wird es unnötig spannend und wir fangen noch unnötigere Gegentore.
Aber ansonsten stehen wir absolut zu Recht auf Platz 1 der Tabelle. Das ist kompletter und nahezu perfekter Zweitligafußball. Und wir haben auch nur ganz kurz in den allerletzten zwei Minuten am Sieg gezweifelt.
Nur wenige Worte zum Elfmeter: Diesen komischen VAR versteht niemand mehr, und um KLARE Fehlentscheidungen geht es längst nicht mehr. Der Fußball sollte einführen, dass eine Änderung eben nur dann möglich ist, wenn es eindeutige und klare Beweise auf Video gibt, dass etwas falsch war. Das würde viele „aber er trifft ihn doch nur mit einem Druck von 2 Joule und es sind aber mindestens 3 notwendig“-Diskussionen erübrigen.
Auf Auf Aufsteigen
Und da kommen wir auch schon zu einigen Anmerkungen: Wir ertragen Fortschrittsverweiger*innen nicht mehr. „Ich will aber gar nicht aufsteigen“ ist eine absolut unsinnige Haltung. Das ist gelebte Wissenschaftsfeindlichkeit. Wahrscheinlich ist die Schnittmenge mit Homöopathen und Impfverweiger*innen sehr hoch. Ja, man kann gerne die Leistungsdenke unserer Gesellschaft kritisieren und sich gemütlichen Fußball ohne Anspruch wünschen, aber heult dann bitte nicht rum, dass uns Trainer, Spieler und auch Sportchef relativ schnell verlassen UND auch Fans ihr Interesse verlieren. So geil ist es nicht, ständig in Fürth 0-0 zu spielen.
Wir wollen keinen Schritt zurück. Wir sind auf Platz 1 und den wollen wir auch die restlichen Spieltage verteidigen. Und dann machen wir alle Selfies mit Jackson und der Felge am Jolly-Tresen. Stellt Euch hinter uns in die Reihe.
Euphoriebremse? Aber Hallo! Wir lesen jetzt alle gemeinsam den Meckerabschnitt und denken, dass Hürzeler da auch schon genug Material für das montägliche Videostudium zusammen hat.
Kommen wir zu den sonstigen Erlebnissen des Tages.
Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist grau… Berlin
Berlin, Dickes B an der Spree. Unsere Lieblingsstadt wird das nicht mehr, muss es aber auch nicht. Ein Teil von uns verbringt den Tag in der Stadt, ein anderer nicht, denn wir reisen – Überraschung! – getrennt an. Auf dem Markt am Boxhagener Platz sehen alle aus wie unser Kapitän und die Berliner Freundlichkeit kann man da auch erleben. Alles wie immer.
Andererseits: Das ist eben ein eigener Charme und muss nicht jedem gefallen. Friedliche Koexistenz und so.
(Wobei wir die These eines FCSP-Fans, dass Berlin und Bayern notwendige Gegensätze seien und sich nur durch diese Gegensätze die Welt weiterentwickele, eher verwundert zur Kenntnis genommen haben. Es ging wohlgemerkt um Politik. Die Antwort seines Kumpels, dass er dieses Mal aber trotzdem nicht CSU wählen würde, ließ uns sprachlos zurück.)
Allgemein hätte man gut Party-Pauli-Bullshit-Bingo spielen können. „Fahnen gehören nicht in den Block“,“Pyro verletzt meine Rechte“, „die Ultras und ihr Dauersingsang“ … Wir mussten uns teilweise schon stark zusammenreißen, um da nicht zu platzen.
Busanreisen können in Kolonne nerven und funktionieren auch nur dann, wenn sich die busfahrende Person darauf einlässt. Dass dann eine Fachkraft hinterm Steuer die Mitfahrenden tatsächlich einfach vor der Heimkurve rauslassen wollte und kaum zu überzeugen war, dass niemand da jetzt einfach zu Fuß zum Gästeingang spazieren würde, war wirklich ganz erstaunlich!
100.000 Hamburger*innen Schalalalala
Überhaupt haben wir vor solchen Massenwanderungen zu FCSP-Spielen immer etwas Angst. Zu viele Menschen, die Saufgelage und Stadion verwechseln und sich an einfachste Regeln des Zusammenlebens nicht halten können. Eine kluge Leserin wünscht sich während des Spieles folgende Überschrift:
„Wenn ihr euren Konsum nicht unter Kontrolle habt, geht doch bitte aufs Oktoberfest und nicht ins Stadion“
Und leider ist das wieder ein Phänomen, das auch wir beobachten müssen. Leute! Sich komplett drüber zu betrinken und dann auch so zu benehmen ist extrem uncool. Neben Leuten an einen Busch pissen, wenn die Klos 50 Meter entfernt sind, ist da nur ein Aspekt.
Unschön: Männer, die „H*rensohn“ Richtung Spielfeld brüllen.
Gut: Männer, die, nachdem man sie anzählt, sich entschuldigen und Einsicht zeigen.
Besser: Lasst es gleich bleiben.
To be fair: Eine Mehrheit der mitreisenden Menschen ist gut drauf und supportet echt gut, auch wenn von Vorsänger bis oben aus „Hauptstadt“ „diese Stadt“ wird.
Was außerdem bitte alle Menschen endlich lernen: Pyro unvermummt vor der Polizei zu zünden ist äußerst unklug. Auch wenn es auf eine Demo aufmerksam machen soll, die von örtlichen FCSP-Fans zum Gästeblocks organisiert wurde.
Ihr wisst, wir mögen Pyro: Ist hübsch und hält im Winter warm. ABER Böller zünden in Stadien ist einfach absoluter Mist. Wenn Menschen im Block zusammenzucken und sich panisch umschauen, dann ist das einfach Müll.
Frechheit
Der Einlass und später auch der Auslass ist eine komplette Frechheit; dem Olympiastadion gehört die Lizenz für ein Zweitligaspiel entzogen. Es gibt viel zu wenige Einlässe für den eigentlichen Gästeblock und das System zum Scannen der Karten ist langsam und anfällig. Es ist eine komplette Absurdität, dass 2023 noch dazu aufgefordert werden muss, man möge doch bitte die Tickets ausdrucken, weil Handytickets nur schlecht gelesen werden können. Dann kannste auch wieder Harttickets wie früher machen.
Wir brauchen über eine Stunde, bis wir drin sind. Es ist unangenehm. Zum Glück sind alle Fans am Einlass sehr diszipliniert und ruhig. „Wie machen die das eigentlich, wenn Hansa kommt?“ „Dann ballern die da Pfeffer rein und schreiben was von bösen Fans.“
Dass man dann im Halbdunkeln über eine Rasenfläche latschen muss, um zum Gästeblock zu gelangen, macht es nicht besser. Klar, wenn du da nur latscht, ist das okay. Aber das ist ja auch der theoretische Fluchtweg. Hmmmm.
Wir mussten bis zum eigentlichen Mal 5! Mal die Karte vorzeigen – auch so ein Grund, warum Menschen erst nach dem Anpfiff in den Gästeblock kommen.
Hinterm Einlass verteilen tolle Menschen einen Kurvenflyer. Dass besonders weiblich gelesene Verteilende dabei angefasst werden, sich dämliche Sprüche anhören müssen oder der Flyer direkt wieder weggeworfen wird macht uns wütend.
Klar, bei 100.000 handgezählten Sankt Pauli-Fans kommt der Querschnitt der Gesellschaft, aber die Verhaltensweisen zeigen die hohe Wichtigkeit der Aussagen auf genau jenem verteilten Papier. Wir alle müssen solidarischer werden. (Siehe Anmerkung oben zum Konsum!)
Stadionshow
Ey, irgendwelche Vorsänger, die martialische Reden über Stadionmikrofon vor dem Anpfiff halten, ist nun so gar nicht unser Style. Aber was die Hertha-Kurve da abzieht, ist im deutschen Fußball schon in dem oberen Mitmach-Bereich. „HÄÄÄÄ“ hören wir euch sagen – richtig, aber stellt euch diese Mitmachquote nun mal in einem reinen Fußballstadion vor!
Was sonst so als Stadionunterhaltung angeboten wird ist ohrenbetäubend und teilweise auch hart peinlich. „Dancecam“? Das ist schon grenzwertig. Und dass der Stadionsprecher auch noch aktiv dazu auffordert, die T-Shirts auszuziehen, ist extrem schwierig.
Dabei hat Hertha eine wirklich gute Awareness Struktur, das wollen wir mal ausdrücklich loben. Kein Schritt zurück auch in diesem Bereich!
Was war sonst noch?
Sterni für 80 Cent macht Kopfweh. Späti-Kioske sind trotzdem heißer Scheiß.
Es ist übrigens zauberhaft, wenn die eigene Gesundheit gerade nicht ganz mitspielt, hierdurch eine persönlich Unzufriedenheit entsteht, weil der eigene Support für die Mannschaft schwächelt, und dann festgestellt werden kann, dass die anderen alle mitreißen und wir beim Monsterspiel in Hertha mit dabei waren. Das gibt Kraft!
Hier kurz eine persönliche Danksagung des Seniors: Hey BBM, da ich weiß, dass ihr das lesen werdet: Danke, dass ich bei euch übernachten durfte. Es war großartig. Und es ist mal schön zu sehen, wie jemand auf uns reagiert, der 26 Jahre nicht in einem Fußballstadion war. See you at the Millerntor.
Und nun?
Losen wir einen Pokal aus, gewinnen diesen und steigen auf. Oder auch nicht. Es ist egal, denn wir sind St. Pauli und unser Tag wird kommen.
Tiocfaidh ár lá
PS: Saad – is‘ ein guter Junge!
PPS: Schön, dass der Käpt’n zurück ist. Der Fehler vorm Gegentreffer kann bei der Stärke des Teams jedem mal passieren.
PPPS: Hier könnten wir so viele weitere Spieler hervorheben wie oben geschrieben, denn alle 16 Spieler wussten genau, was zu tun war und das sieht als Kollektiv einfach fantastisch aus!
Danke für diese tolle und präzise Zusammenfassung. Der Böller ist direkt neben mir explodiert und das war sehr unangenehm. Zum Glück nichts weiter passiert, aber muss wirklich nicht sein. Pyro mit Vorwarnung kein Problem sonst.
Wir waren sehr früh da und deshalb Einlass kein Problem. Aber die baulichen Gegebenheiten sind schwierig, alles eng, vor allem auch diese schmalen Gänge aus dem Block raus.
Leider haben wir nur Block E4 bekommen und der war sehr voll mit Pauli-Party Fans. Filmen im Block, sogar direkt ins Gesicht, sich betrinken aus einem Flachmann (getarnt als Regenschirm), andere angrapschen, Spieler und gegnerische Fans beschimpfen, alles dabei.
So macht auswärts leider echt nicht viel Bock.
„Wenn ihr euren Konsum nicht unter Kontrolle habt, geht doch bitte aufs Oktoberfest und nicht ins Stadion“
Und leider ist das wieder ein Phänomen, das auch wir beobachten müssen. Leute! Sich komplett drüber zu betrinken und dann auch so zu benehmen ist extrem uncool. Neben Leuten an einen Busch pissen, wenn die Klos 50 Meter entfernt sind, ist da nur ein Aspekt.
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Natürlich freuen wir uns immer, wenn Nicht-Betroffene unser Thema aufgreifen. Nicht zum ersten Mal konnten wir hier im Blog kritische Anmerkungen zum Konsumverhalten einiger FCSP-Anhänger*innen lesen. Unsere Position ist da eindeutig: Wir wollen niemanden ihr/sein Bier/Joint wegnehmen – jeder Mensch hat das Recht, seinem Körper und seiner Psyche größtmöglichen Schaden zuzufügen. Leider bleibt es in vielen Fällen nicht bei der Selbstschädigung: Je höher der Pegel, je niedriger die Selbstreflektion, welche Auswirkungen mein Rausch auf andere Menschen hat. Es nervt gewaltig, dass wir insbesondere bei Auswärtsfahrten ausschließlich teure Sitzplatzkarten erwerben müssen, um nicht Gefahr zu laufen, angerempelt, mit Bier bekleckert zu werden oder die Drogen anderer Stadionbesucher*innen inhalieren zu müssen. Das funktioniert mal besser – meistens schlechter. Rücksichtnahme – auch gegenüber den in unserer Gruppe mitreisenden Kindern und gegenüber noch nicht so stabilen Menschen aus unseren Reihen, die das exzessive Gesaufe und Gekiffe im Stadion noch massiv triggert, erwarten wir generell nicht. Da ein „dann geh doch nicht ins Stadion“ für uns keine Option darstellt, werden wir uns in bestimmten Situationen weiterhin massiv verbal zur Wehr setzen und weiter darauf setzen, dass langsam beider nächsten und übernächsten Generation von FCSP-Anhänger*innen ein Paradigmenwechsel einsetzt: Fußballvergnügen, Freude, Frust, Trauer und Emotionalität können auch ohne verstärkende Substanzen gelebt werden – die scheinbar in Stein gemeißelte Symbiose von Fußball und unreflektiertem Drogenkonsum kann auf Dauer überwunden werden – dazu bedarf es natürlich eines langen Atems, Geduld und Beharrlichkeit. Dass beim FCSP an dieser Problematik gearbeitet wird, begrüßen wir ausdrücklich! Schon diese Woche startet mit zwei Workshops die Arbeit an dem von der letztjährigen FCSP-MV eingeforderten Suchtpräventionskonzept – ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Wir haben das Hertha-Wochenende übrigens dazu genutzt, uns intensiv mit unserem Köpenicker Pendant „Nüchtern betrachtet – mehr vom Spiel“ auszutauschen. Auch ohne zu „Blutsbrüdern“ zu werden, hat sich erneut herausgestellt, wie wichtig Vernetzungsarbeit bei unpopulären Themen ist. Wenn demnächst in der „Alten Försterei“ ein TROCKENDOCK-ähnlicher Getränkeverkaufs- und Informationsstand eröffnet wird, werden wir gerne mit einer kleinen Delegation vor Ort sein …
Michael
Weiß-braune Kaffeetrinker*innen