Gefühlsaufnahmen vom Reeperbahn Festival 2020
Sonnabendnacht, wir befinden uns auf dem Heiligengeistfeld, Sicht aufs Millerntor, Bier in der Hand und Talco spielen live. Ist das nicht wundervoll?
Jein.
Alle sitzen, sogar die Band. Nur die zahlreichen Sicherheitsleute stehen mit bedeckten Gesichtern am Rande. Wir sitzen in Zweiergruppen mit meterlangem Abstand zu anderen Konzertbesuchenden, bloß kein Aufstehen ohne Zweck (Toilette & Getränkestand sind erlaubt), Tanzen geht schon mal gar nicht. Auch wenn wir uns im Freien befinden, gilt die “Wegeregel”, also immer schön Mund-Nasen-Schutz tragen, wenn man nicht am Platz ist. Bei Verstößen sind die Sicherheitsleute sofort zur Stelle. Das fühlt sich ganz schön seltsam an.
Wie ein Festival 2020 stattfinden kann
Kurzer Rückblick: Vor ein paar Wochen wurde klar, dass das Reeperbahn Festival 2020 tatsächlich stattfinden wird – mit massiven Auflagen. Eine Art Testballon für die gebeutelte Musikindustrie, inwieweit Livemusik im größeren Stil pandemiegerecht möglich ist. Kurz durchs Line-up geguckt – oh, cool, Talco? Reicht schon als Grund. Machen wir. Knapp 70 Euro für ein Tagesticket? Heidewitzka! Andererseits: Was haben wir schon groß an Ausgaben für Konzertkarten in diesem Jahr? Der Mut, ein Festival in diesen Zeiten auf die Beine zu stellen, muss irgendwie honoriert werden. Und dass eine solche Veranstaltung in diesem Jahr etwas mehr Aufwand bedeutet als nur ein paar Bühnen, Bands und Buden, ist auch klar. Nicht, dass das sonst alles einfach wäre!
Und so wollen wir dem Ganzen eine Chance geben. Auch wenn natürlich alles anders werden wird.
Willkommen in Pandemistan
Nächster Zeitsprung: Als wir spätabends wieder zu Hause sind, lösche ich mehr als ein Dutzend Fotos von verschiedensten QR-Codes vom Handy. Was hat es damit auf sich?
Vielleicht kennt ihr das von Restaurantbesuchen – statt mühsam die persönlichen Daten auf einen Zettel zu schreiben, bieten einige Betreibende eine digitale Lösung an. QR-Code scannen und Daten in eine Online-Anwendung eingeben, zack, ist das Ganze doch etwas bequemer und womöglich sogar datensicherer. Da sind wir aber ehrlich gesagt in diesen Zeiten sowieso etwas schmerzbefreit.
Jedenfalls gibt’s beim Reeperbahn Festival ebenfalls die Notwendigkeit, sich ein- und auch wieder auszuchecken. Nicht nur für die gesamte Veranstaltung, sondern für jede einzelne Location. Kein unüberwindbares Problem, aber schon ein bisschen bizarr und es nimmt ein gutes Stück der Leichtigkeit, die so ein Festivalbesuch eigentlich begleitet. Kein Wunder, dass mobile Handy-Ladestationen herumlaufen, weil das Prozedere doch gut auf den Akku geht. Ohne Smartphone hat man sicherlich noch deutlich größeres Generve.
Viel stärker ins Gewicht als der Check-in-Aufwand fällt allerdings, dass die einzelnen Spielorte – wenig überraschend – massiv die Anzahl der Gäste beschränkt haben. Und so stehen wir mehrfach vor verschlossenen Türen, weil der Laden schon voll ist. Hier läuft zwar wenig, was für uns zwingend wäre, aber gerade dieses “Sich treiben lassen und mal Sachen angucken, von denen man kaum was zuvor gehört hat” macht sonst den großen Reiz dieses Events aus. Spontaneität ist dieses Jahr nicht angesagt. Immerhin: Zu keinem Zeitpunkt sehen wir uns irgendwelchem Gedränge ausgesetzt, sodass wir uns rundum sicher fühlen können.
Dann gibt es im ganzen Regelpaket auch noch so ein paar Dinge, die schwer nachvollziehbar sind. Im Festival Village wird nur alkfrei ausgeschenkt, vor den Bühnen aber Vollbier. An ausladende Biertische vorm Knust dürfen sich trotz viel Platz lediglich zwei zusammengehörige Personen setzen, anderswo im Festivalbereich kannst du dich zusammenkuscheln, wie du willst, es stört niemanden. Freie Platzwahl vor der Hauptbühne gibt es auch nicht, wir werden schön hinter eine sichtbehindernde Säule gesetzt.
Ein Zeichen
Uff. Während wir zwischen penetranter Pausenmusik umfangreich dystopisch klingende Durchsagen erklingen (Abstand, Mund-Nasen-Schutz, nicht aufstehen, bevor man dazu aufgefordert wird, viel Spaß auf dem Reeperbahn Festival, diesdas), ist Zeit für ein Zwischenfazit. Macht das so eigentlich Freude? Besser als gar nichts, kann man vielleicht sagen. Groß ins Gespräch mit anderen Gästen kommt man nicht, deswegen bleibt das eher eine Einzelbeobachtung, auch wenn der NDR-Blog zu einer ähnlichen Einschätzung kommt. Irgendwas muss man ja machen, irgendwie muss man zeigen, dass es weitergeht. Und gerade für die Künstler*innen, die keine Lust mehr haben, bestenfalls von der Hand in den Mund zu leben, und endlich wieder ihrem Job nachgehen wollen, ist es sicherlich verdammt wichtig, wenigstens ein Zeichen zu setzen.
Viel mehr als ein Zeichen kann das Reeperbahn Festival 2020 aber kaum sein. Solange es Besorgnis erregende Infektionszahlen und keinen Impfstoff gibt, funktioniert so was doch fast nur draußen oder allenfalls drinnen mit sehr geringen Besucher*innenzahlen. Schwer vorstellbar, dass sich eine ganze (freifinanzierte) Branche auf diese Weise durch den Winter retten kann. Und doch, das Signal ist wichtig – schließlich sind wir alle auch ausgehungert nach Livemusik. Selbst wenn es sich so seltsam anfühlt wie hier. Natürlich sind die Auflagen gewaltig, nicht nur vom Gesetzgeber, vermutlich auch selbst auferlegt. Die gesamte Musikindustrie schaut mit Argusaugen auf dieses Event, da können sich die Veranstaltenden keinen Fehler, keine Infektion, keinen Skandal erlauben. Bei allem Genörgel über Maßnahmen, die der eigenen Gelassenheit im Weg stehen: Was muss, das muss. Jede*r Einzelne sollte Verständnis dafür haben. Auch wenn es da draußen so viele Hallodris gibt, die im privaten, unregulierten Rahmen einander auf die Pelle rücken und auf jegliche Verhaltensregel in Pandemiezeiten scheißen. Hier gelten andere Maßstäbe.
Stimmung ist, was du draus machst
Nun also Talco, das Highlight des Tages. Wie wohl Ska-Punk im Sitzen funktioniert? Deutlich besser als gedacht! Die Band aus Venedig hat nämlich die Zeichen der Zeit erkannt und auf ein Akustik-Set umgesattelt. Talco sitzen selbst weit auseinander, wie ein Akt der Solidarität in diesen beknackten Zeiten. Klar, die Musik reißt nicht annähernd so mit wie mit Strom verstärkt in einem schwitzigen Club. Aber das ist eben kein Wunschkonzert. Putzig zu sehen jedenfalls, wie viele andere Besucher*innen sich mit Mühe auf ihrem Klappstuhl halten und sämtliche Körperteile so gut es geht im schnellen Offbeat durch die Gegend schütteln. Die Stimmung ist dann doch so ausgelassen, wie sie es in diesen Zeiten eben sein kann. Die Leute haben schon Bock, auf und vor der Bühne. In den Gesichtern der Musiker strahlt die Freude, wieder vor Menschen spielen zu dürfen, fast heller als die Scheinwerfer. Es mag etwas überraschen, dass Talco in Sichtweite des Stadions den Song “St. Pauli” nicht mal ankündigen oder weiter ausreizen; auch “Bella Ciao“ bekommt keine Ansage oder Aufforderung zum Mitmachen. Wir vermuten mal, dass die Bands angehalten sind, die Stimmung nicht überkochen und Besucher*innen unvernünftig werden zu lassen.
Nach etwas mehr als einer Stunde sind Talco durch und wir auch. Als sich dann doch das Publikum zum abschließenden Applaus erhebt und die Band von der Bühne ein Selfie macht, während Johnny Cash “The Man Comes Around” aus den Boxen singt, scheint die Welt einen Augenblick lang fast normal. Dann aber wieder Maske auf, auf die Anweisung zum Verlassen des Geländes warten, per Handy auschecken und ab nach Hause.
Hat das Spaß gemacht? Ja, “aber“. Schreit das nach Wiederholung? Es scheint schwer vorstellbar, dass es zu einem vergleichbaren Event in naher Zukunft kommt. Betriebswirtschaftlich rechnet sich das einfach nicht. Beim RBF fließen jedes Jahr reichlich Subventionen, unabhängige Veranstaltungen können da nicht mithalten. Und so bleibt vom Reeperbahn Festival 2020, dass Livemusik nicht tot ist und auch wieder kommen wird, wenn die Zeit reif ist. Bis dahin müssen wir uns wohl noch eine ganze Weile gedulden.
PS: Wir wissen nicht, wie lange, aber den Auftritt könnt ihr euch beim NDR noch in Gänze ansehen.